Der Zustand der Dinge
Den Dezember-Schwerpunkt widmen wir Michelangelo Antonioni. Der Filmkritiker Matthias Lerf nennt drei oder vier gute Gründe, wieder einmal die Filme des grossen Stilisten zu schauen.
Michelangelo Antonioni (1912–2007), lange mein Lieblingsregisseur. Letztmals habe ich vor zwölf Jahren einen Film von ihm gesehen, aber ich denke oft an ihn. Es gibt Zeichen, Antonioni-Zeichen. Zum Beispiel, wenn ein Flugzeug im Landeanflug merkwürdig langsam über unseren Garten Richtung Kleinflughafen zieht. «Hat es noch alle Räder?», frage ich mich und richte den Blick gen Himmel.
1. Zabriskie Point (1970)
Bei den Dreharbeiten zu Zabriskie Point gab es einen Unfall mit dem kleinen Flugzeug, in dem Antonioni, sein Kameramann und ein Pilot sassen. Sie folgten dem Auto der Hauptdarstellerin aus der Luft, sanken ganz nahe hinab, zu nahe, denn plötzlich knallte es. Antonioni erblickte ein Rad, das neben dem Auto herflog und fragte den Piloten, wieso ein Rad wegfliegen könne, wo sie doch nur das Dach des Autos berührt hätten. «Das ist kein Rad vom Auto», antwortete der Pilot, «es ist von uns.»
Das Flugzeug musste eine Stunde lang kreisen, um Treibstoff zu verlieren, der Pilot schätzte die Chance, dass sie davonkämen, auf «fifty-fifty» ein. Aber Antonioni blieb, wie er später schrieb, ruhig. Er sah die Feuerwehr warten, den Sanitätswagen, er sah seine Mitarbeiter am Boden, von denen viele auf ein Autodach geklettert waren, um die Landung besser verfolgen zu können. Er bemerkte sogar wohlwollend, dass niemand sich anschickte, Fotos zu machen. Aber am längsten schaute er von oben die Wüste an, die ihm durch die Dreharbeiten so vertraut war. Nichts daran war anders als sonst, ausser diesem winzigen Rad, das im Sand lag. Das nahm er als Zeichen, dass er überleben werde.
Ein schönes Bild; es könnte aus einem seiner Filme sein. Bei Antonioni geht es um die fast unsichtbaren Veränderungen, die Grosses bewirken können. Ein Rad, das fehlt. Ein Lächeln zu viel. Eine Geste zu wenig. Gut, Zabriskie Point, während der Studentenunruhen in Los Angeles gedreht, arbeitet mit deutlicheren Symbolen: eine Orgie in der Wüste, nackte Körper im heissen Sand. Oder die gewaltige Explosion zum Schluss, alles fliegt davon, in extremer Zeitlupe. Als ich noch regelmässig Antonioni-Filme sah, war mir das zu deutlich. Aber wer weiss, vielleicht ist es heute ganz anders. Vielleicht ist es gar so, wie ein «Cahiers du Cinéma»-Kritiker bereits 1992 mutmasste, der behauptete, Zabriskie Point sei viel besser als gemeinhin angenommen und La notte viel schlechter. Darum: Erst wieder einmal Zabriskie Point schauen. Und La notte natürlich auch.
2. La notte (1961)
In La notte geht es um das Gesicht der Jeanne Moreau, die – Antonioni-Zeichen – nie lächelt. Sie und ihr Filmpartner Marcello Mastroianni merken im Verlauf einer Nacht, dass ihre Beziehung zu Ende ist. Das Ende der Liebe ist auch Thema in L’avventura (1960) und L’eclisse (1962). Nie ist der im norditalienischen Ferrara – einem Ort voller Winternebel – geborene Regisseur konsequenter seinen Weg gegangen als in dieser Trilogie.
Er selber theoretisierte gerne über seine Filme, schrieb in einem Text zu L’avventura, dass sich die Menschen im Zeitalter des technologischen Fortschritts einer völlig veralteten Moral bedienten. «Der Mensch, der das Unbekannte der Wissenschaft nicht fürchtet, scheut sich vor dem Unbekannten der Seele», notierte er etwas pathetisch dazu und verstand sich als Erforscher der Gefühle. In den Sechzigerjahren, als die Wissenschaftsgläubigkeit noch gross war, gelang ihm das von leichter Hand. Aber interessant: Als er fünfzehn Jahre später eine La-notte-Fortsetzung schreiben wollte, scheiterte er.
Der Film hätte Zwei Telegramme heissen sollen. Eine Frau steht im Zentrum, eines Nachmittags bekommt sie im Büro ein Telegramm von ihrem Mann, der darin die Scheidung fordert. Das zweite Telegramm schickt sie selber, mitten in der Nacht, an einen Unbekannten im Hochhaus gegenüber, bei dem noch Licht brennt. Er schaut hinaus, meldet sich jedoch nicht. Mit einer Schere in der Hand erwartet sie nach durchwachter Nacht ihre Bürokollegen, bereit gleichgültig auf wen einzustechen.
Diesen Film hat Antonioni nicht gedreht, weil ihm diese Frau «unsympathisch und eigentlich inakzeptabel» erschien. Aber vielleicht auch, weil sich mit dem Glauben an die Wissenschaft auch der Glaube an die Erforschung der Seele verändert hat. Filmskizzen wie die «Zwei Telegramme» und auch das eingangs erwähnte «Rad» gab er dafür in einem Erzählband heraus. Eine Fundgrube, wenige Sätze beschreiben eine ganze Welt. Darum: Wieder einmal «Bowling am Tiber» lesen (das Buch gibt es leider nur noch antiquarisch).
3. Professione: reporter (1975)
Filmisch war Antonioni längst weiter, geografisch ein Weltreisender, inhaltlich auch ein Forschender in Sachen Technik. Das vergisst man leicht, aber er experimentierte stets. In seinem ersten Farbfilm, Il deserto rosso (1964), liess er ganze Häuserzüge umstreichen, um den gewollten Effekt zu erzielen, das Gras färbte er ebenfalls grüner. Und erst die Kamera: Am bekanntesten ist die siebenminütige Schlusseinstellung von Professione: reporter, in der sie ein vergittertes Fenster durchdringt, aus einem Haus raus und wieder rein fährt. Heute, im Zeitalter der computergenerierten Kamerafahrten, tönt das banal, doch damals konnte man stundenlang debattieren, wie das wohl gemacht worden sei.
Aber es gibt noch eine andere bemerkenswerte Kamerasequenz in diesem Film, in dem Jack Nicholson als Reporter in Afrika die Identität eines andern annimmt. Nicholson fälscht dabei in seinem Hotelzimmer den Pass, tauscht die Bilder aus. Ab Tonband – seinem Arbeitsgerät – hört er einen Dialog, den er mit dem nun toten Hotelgefährten geführt hatte. Die Kamera schwenkt langsam raus, durchs Fenster sieht man den jetzt wieder Quicklebendigen stehen, und bald gesellt sich Nicholson selber dazu. Sie führen den Tonbanddialog weiter: eine Rückblende, eingeleitet ganz ohne Schnitt, nur mit einem Kameraschwenk.
Vielleicht waren Antonioni solche Kabinettstücklein manchmal wichtiger als die Schauspieler. Vielleicht waren seine Darstellerinnen manchmal mehr Gefühlsträgerinnen als Menschen, die solche Gefühle wirklich erleben. Vielleicht resultiert daraus eine gewisse Distanziertheit. Aber um das zu prüfen, müsste man wieder einmal Professione: reporter sehen. Und damit ist noch gar nichts gesagt zu Monica Vitti.
4. L’eclisse (1962)
Monica Vitti, so leidenschaftlich und doch so unnahbar, die perfekte Antonioni-Darstellerin. Sechs Filme hat sie mit ihm gedreht. Darunter L’eclisse, in dem sie sich zu Beginn in einer fast wortlosen Montage von ihrem Partner trennt. An der Börse begegnet sie Alain Delon, mit dem sie später durch eine moderne Vorortssiedlung spaziert. Überall wird gebaut, nichts ist definitiv, die Gefühle sind es schon gar nicht. Auf dem Fussgängerstreifen sagt er: «Drüben gebe ich dir einen Kuss.» Drüben ist ein Wasserfass, in das Monica Vitti ein Stück Holz wirft.
Wenn ich nur einen Film wieder sehen könnte, müsste es L’eclisse sein. Darin scheint es mir den reinsten Antonioni-Augenblick zu geben: das Versprechen nach durchbalgter Nacht, sich am gleichen Abend wieder zu sehen. Und am Tag darauf auch und einen Tag später wieder. Zum vereinbarten Treffpunkt beim Wasserfass wird jedoch keiner mehr kommen.
Dafür endet der Film mit einer furiosen Montage der Dinge aus diesem Film: das Stück Holz im Wasser, Steine, die wie Wolkenkratzer aussehen, ein Baugerüst, eine Lampe, die blendet, und die Dunkelheit – «l’eclisse» heisst Sonnenfinsternis –, die alles verdeckt. Ja, manchmal denke ich auch an Antonioni, wenn es einfach nur dunkel wird.
Matthias Lerf
Der Autor ist Redaktor der SonntagsZeitung. Er lebt in Bern.
Für das Zustandekommen der Retrospektive Michelangelo Antonioni danken wir herzlich dem Kino Xenix in Zürich, dem Stadtkino Basel und dem Istituto Luce Cinecittà in Rom.