
Andrea Arnold – Wilde Herzen, Raue Welten
13.11. – 03.12.2025
Die rohe Energie des Alltäglichen und Figuren, die wie unter Strom stehen: Andrea Arnolds Filme sind das freihändige Leben – und von einer unbändigen, streunerischen Sinnlichkeit, die ihresgleichen sucht. Wir zeigen sämtliche Langfilme der britischen Regisseurin sowie ihren Oscar-prämierten Kurzfilm Wasp.
Florian Keller
«Das ist nicht der Film, den ich...» Andrea Arnold macht den Satz nicht fertig, aber im Gespräch mit ihr wird klar, was sie meint: Bird (2024), ihr jüngster Spielfilm, ist offenbar nicht so herausgekommen, wie sie sich das vorgestellt hatte. Das ist bei Interviews eigentlich nicht vorgesehen, dass eine Künstlerin einem Journalisten gegenüber so offenherzig ihre Enttäuschung über das eigene Werk mitteilt. Kann sein, dass das laue Echo in Cannes bei ihr noch nachwirkt, wo Bird von der Kritik etwas schnöde abgehakt wurde. Dabei ist der Film so elektrisierend wie alle anderen der britischen Regisseurin.
Nicht zum ersten Mal lässt uns Andrea Arnold hier mit jeder Faser am Erfahrungshorizont einer jugendlichen Hauptfigur teilhaben. In Bird ist es Bailey (Nykiya Adams), die sich zwischen zwei Formen von elterlicher Verwahrlosung für ihren überdrehten Vater (Barry Keoghan) entschieden hat. Der Wind trägt dann Franz Rogowski als Bird in den Film hinein, einen Sonderling wie aus einer anderen Zeit, der in der Gegend nach seinen Eltern sucht. Und in der Ödnis der englischen Agglo entspinnt sich so etwas wie ein Märchen um echte und falsche, schlechte und gute Väter, und solche, die vielleicht doch zu jung dafür sind.
Mit Bird ist Arnold nochmals ins Milieu ihrer Herkunft zurückgekehrt, «zum letzten Mal», wie sie glaubt. Geboren 1961, ist sie in einem Sozialbau am äussersten Rand des Grossraums London aufgewachsen, als ältestes von vier Geschwistern. Ihr Vater war siebzehn, als sie zur Welt kam, die Mutter noch etwas jünger – und nach der Trennung bald allein mit den Kindern. Es sind Konstellationen, die sie immer wieder in ihren Filmen gespiegelt hat: mit Jugendlichen in prekären Verhältnissen und sehr jungen, alleinerziehenden Müttern, und immer wieder auch mit Ersatzfamilien in allen Schattierungen – gewaltvoll, zärtlich, manchmal beides zugleich. Wie in Fish Tank (2009), wo Michael Fassbender in einer vaterlosen Familie, in der Liebe ein Fremdwort ist, für die Tochter eine Ahnung von Glück verkörpert – und dann ein bisschen mehr als das.
Angefangen hat Andrea Arnold beim Fernsehen. Damals, in den frühen achtziger Jahren, stand sie selber noch vor der Kamera, als Moderatorin und Schauspielerin in einer Morgensendung für Kinder. Später folgten erste Kurzfilme als Regisseurin, mit ihrem dritten, Wasp (2003), gewann sie den Oscar für den besten Kurzspielfilm. Über zwanzig Jahre ist das her, und damals wie heute hiess ihr Kameramann: Robbie Ryan. Bis auf Cow (2021), ihre eindringliche Langzeitstudie über das Leben einer Milchkuh und ihr bislang einziger Dokumentarfilm, hat sie stets mit dem Iren gedreht, der dann bald auch bei Ken Loach für die Bildgestaltung zuständig war (und seit The Favourite auch bei Yorgos Lanthimos).
Zusammen drehten sie dann ihren Erstling Red Road (2006), der der Regisseurin in Cannes ihren ersten von drei Jurypreisen einbrachte. Entlang von vorgegebenen Figuren als Teil eines Förderprojekts entstanden, hält sich dieser psychologische Thriller über kaputte Familien und den Voyeurismus einer Überwachungsbeamtin noch an gewisse dramaturgische Raster, von denen sich Andrea Arnold fortan immer mehr befreien wird. Heute verstehen sie einander fast blind, die Regisseurin und ihr Kameramann: «Im Scherz sage ich immer, dass wir gar nicht mehr miteinander reden, weil wir uns schon so gut kennen.» Und dann erzählt sie von der allerersten Einstellung, die sie damals bei Wasp von Robbie Ryan verlangt habe. Natalie Press als alleinerziehende Mutter rennt da mit Baby auf dem Arm eine Treppe herunter. «Ich sagte ihm, dass ich sie auf ihrem Gesicht haben wolle. Erst da wurde mir klar, was ich von ihm verlangte: dass er rückwärts die Treppe hinunterrennen solle.» Worauf Ryan genau das getan habe und mit geschulterter Kamera rückwärts die Treppe hinunterrannte.
Die Handkamera ist seither ein unverzichtbares Instrument für Andrea Arnold geblieben. Und zwar nicht, um irgendwelche Vorstellungen von filmischem Realismus zu bedienen, sondern in erster Linie wegen der Autonomie, die sie den Spielenden ermöglicht: «So können sie sich frei bewegen, als ob der Raum ihnen gehörte.» Es ist eine ästhetische Maxime, in der sich auch eine politische Haltung äussert: Die Figuren sollen sich den Raum nehmen, den sie zur Entfaltung brauchen.
Selbst auf holprigem Gelände lässt sich Arnold nicht davon abbringen. Sie erzählt von den Dreharbeiten zu Wuthering Heights (2011), in einer Heidelandschaft, die eigentlich zu unwegsam war für die Arbeit mit der Handkamera. Also wurden Schienen verlegt für einen Dolly, den Kamerawagen, der für geschmeidige Travellings sorgt. Aber Andrea Arnold hasst Dollys: zu mechanisch die Kamerafahrten, zu wenig natürlich. Also weg mit der Maschine und her mit einem Arbeitstier. Statt auf den Dolly setzte sich Robbie Ryan verkehrt herum auf ein Pferd und filmte so, über die Heide schaukelnd, hinten heraus.
Wuthering Heights, nach dem gleichnamigen Roman von Emily Brontë, ist eine Literaturverfilmung, wie es sie viel zu selten gibt. Andrea Arnold liebte den Roman, aber sie stiess damals erst spät zum Projekt, und sie habe dann alles über den Haufen geworfen: «So ist das bei allem, was ich mache: Ich suche mir das nicht aus, es sucht mich aus. Etwas packt dich im Nacken, und dann lässt es dich nicht mehr los. Es ist fast so, als ob ich gar keine Wahl hätte.» Die beiden Hauptrollen besetzte sie, wie so oft, mit unbekannten Gesichtern, den Roman reduzierte sie auf seine elementaren Fliehkräfte. Aber gerade weil sie die literarische Vorlage sehr frei verdichtet, kommt sie dem Buch und seinen widerspenstigen Figuren viel näher, als es jedes akkurat geschürzte Kostümdrama könnte. Wuthering Heights ist ein Film, der in seiner auch schmerzhaften Sinnlichkeit umso kompromissloser wirkt, als alles hier ins enge 4:3-Bildformat eingeschnürt ist.
Das Format behielt sie danach auch bei, als sie ihren Blick für die Ränder der Gesellschaft auf die andere Seite des Atlantiks verlegte, bei ihrem Roadmovie American Honey (2016). Das war fast schon eine Provokation, in der Heimat des Westerns den Horizont derart zu beschneiden. Gestutzt aufs 4:3-Format, versprechen diese Bilder aber auch nichts, was das Land der vorgeblich unbegrenzten Möglichkeiten ohnehin nicht halten kann – erst recht nicht für jemanden wie Star (Sasha Lane), die sich in dem Film einer mobilen Verkaufstruppe anschliesst. American Honey zeigt das nomadische Prekariat junger Menschen, auf die nirgends ein Job wartet und schon gar keine Karriere. Auch wieder so eine Art Ersatzfamilie: Diese Kids, die den amerikanischen Traum nur vom Hörensagen kennen, proben eine alternative Form von Freiheit und Zugehörigkeit – auch dann, wenn sie zu Rihanna durch den Supermarkt tanzen, bis die Security kommt.
Andrea Arnold gehört nicht zu denen, die sich eine Idee in den Kopf setzen und diese dann durchziehen. Sie versuche immer, sich darauf einzulassen, was der Tag so bringe: «Und wenn etwas im Weg ist, das so nicht vorgesehen war, versuche ich, das trotzdem zuzulassen, denn das macht es doch erst lebendig. Man verliert dabei zwar manches, dafür gewinnt man andere Dinge.» Bei Bird nun war es doch anders, wie sie erzählt: zu viele Verluste, viel mehr als üblich.
Die unbändige Sinnlichkeit, die ihre Filme auszeichnet, erweitert sie hier beiläufig ins Fantastische – mit einer Art magischen Realismus, der aber sehr bodenständig bleibt. Dass offenbar zu vieles nicht so geklappt hat, wie die Regisseurin sich das vorgestellt hatte? Das ist noch lange kein Grund, ihre Enttäuschung zu teilen. Denn in gewisser Weise ist Bird so etwas wie die Summe ihres Werks. Etliche Motive tauchen hier wieder auf, die man so oder ähnlich schon in früheren Filmen von ihr gesehen hat: die ausschwärmende Jugendgang aus American Honey, der Wind, der durchs Heidekraut fährt, wie in Wuthering Heights, oder der Blick hoch zu den Vögeln zwischen den Wohntürmen in der Agglo, wie in Red Road. Und dann dieser Moment, wie ein Déjà-vu, als Bailey zu Fuss ihre Mutter besuchen geht und sie unterwegs im Niemandsland ein paar Jungs mit einem Pferd kreuzt: Hat sie da nicht gerade eine Szene aus Fish Tank durchquert?
Diese rohe Energie des Alltäglichen, die Andrea Arnold immer wieder einfängt; diese Figuren, die oft wie unter Strom stehen und doch immer wieder innehalten, ganz bei sich; der impulsive Rhythmus dieser Geschichten, die scheinbar drauflos streunen und erst mit der Zeit herausfinden, wo sie eigentlich hinwollen. Es ist ein Kino der rauen Ränder, und damit ist nicht nur das soziale Umfeld dieser Geschichten gemeint. Keiner dieser Filme ist perfekt, aber alle sind sie auf ihre Weise unverwechselbar. Denn die Filme von Andrea Arnold sind das freihändige Leben: loslassen, sich von der Bewegung mitreissen lassen, in jedem Augenblick einem möglichen Sturz entwischen.